16.11.2010
http://www.prognos.com/Detailansicht.436+M57ec0d9636c.0.html
Deutschland entwickelt sich ökonomisch immer mehr zu einer Zweiklassengesellschaft: Starke Städte und Kreise vor allem im Süden und Südwesten der Republik eilen den restlichen Regionen wirtschaftlich immer weiter davon. Das ist ein zentrales Ergebnis des Zukunftsatlas 2010. Darin hat das Schweizer Wirtschaftsforschungsinstitut Prognos exklusiv für das Handelsblatt zum dritten Mal seit 2004 die Zukunftsfähigkeit aller Städte und Kreise in Deutschland untersucht. Basis der Studie sind 29 Indikatoren zur wirtschaftlichen, demografischen und sozialen Lage der Regionen.
Wenige Regionen, die vor allem Regionen in Bayern und Baden-Württemberg liegen, treiben laut Zukunftsatlas den derzeitigen Konjunktur-Aufschwung in Deutschland. Sechs der sieben Städte und Kreis, denen Prognos „Top-Zukunftschancen" attestiert, befinden sich in den beiden süddeutschen Bundesländern. Der siebte Spitzen-Standort - Frankfurt am Main - liegt nur ganz knapp nördlich des Weißwurst-Äquators. „Insgesamt sind die starken Regionen erstaunlich gut durch die Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre gekommen", sagt Prognos-Geschäftsführer Böllhoff. „Die tiefste Rezession seit Jahrzehnten hat die wirtschaftlichen Strukturen in den Boom-Regionen offenbar nicht dauerhaft beschädigt."
Der Großraum München ist mit Abstand der Wirtschaftsraum in Deutschland mit den besten wirtschaftlichen Perspektiven. Landkreis und Stadt München liegen auf den ersten beiden Plätzen des Prognos-Rankings, die Nachbarkreise Starnberg und Freising folgen auf den Plätzen vier und 13. Die bayerische Landeshauptstadt hat in den vergangenen fünf Jahren so viele Einwohner hinzugewonnen wie keine andere Region in Deutschland - vor allem, weil sie massiv 18- bis 30-jährige aus anderen Winkeln der Republik angezogen hat. Zunehmend strahlt die wirtschaftliche Potenz auch in das Münchener Umland aus: Die an die bayerische Landeshauptstadt angrenzenden Landkreise Freising, Ebersberg, Miesbach, Fürstenfeldbruck und der Landkreis Rosenheim verfügen über „sehr gute Zukunftschancen".
Mittelmaß im Norden und Nordwesten
Im Norden und Nordwesten der Republik sind die Zukunftsaussichten dagegen
weniger günstig. So schafft es nur eine einzige Stadt aus Nordrhein-Westfalen -
die Landeshauptstadt Düsseldorf (Rang 10) - in die zweitbeste Gruppe der 30
Standorte mit „sehr hohen Zukunftschancen". Auch aus Niedersachsen sind nur zwei
Städte (Wolfsburg auf Platz 8 und Braunschweig auf Platz 22) in dieser
Spitzengruppe vertreten. Immer mehr Regionen im Norden und Nordwesten der
Republik droht in den nächsten Jahren der wirtschaftliche Abstieg. Für 38
Städte und Kreise in den alten Bundesländern sieht Prognos mehr Risiken als
Chancen. Im Jahr 2004 war dies nur in 19 der Fall. Abgerutscht sind unter
anderem das nördliche Ruhrgebiet, die Eifel und die Südwest-Pfalz.
Ostdeutschland: viel Schatten, wenig Licht
Differenziert ist die Entwicklung in den neuen Bundesländern. Einige wenige
Spitzenstandorte haben sich so gut entwickelt, dass sie inzwischen mit
westdeutschen Metropolen auf Augenhöhe liegen. Das gilt vor allem für Jena
(Platz 15) und Dresden (Platz 32), denen Prognos jeweils „sehr hohe
Zukunftschancen" bescheinigt. Beide ostdeutschen Städte lassen im Ranking
zahlreiche westdeutsche Städte hinter sich - sie schneiden besser ab als
Karlsruhe (Rang 37), Mainz (Rang 47) und Köln (Rang 56).
Für den großen Rest der neuen Bundesländer sieht es dagegen eher düster aus. Von den 53 Regionen, für die Prognos hohe oder sehr hohe Zukunftsrisiken sieht, liegen 48 in Ostdeutschland. Vor allem Flächenkreise abseits von Metropolen werden es in Zukunft noch deutlich schwerer haben, zeigt der Zukunftsatlas. Die rote Laterne unter allen 412 Städten und Kreisen in Deutschland geht in diesem Jahr an den Landkreis Demmin in Mecklenburg-Vorpommern.
Demografischer Wandel: die Stunde der Wahrheit
Deutschlandweit schlägt für die Städte und Kreise die Stunde der Wahrheit in Sachen Demografie. Zum ersten Mal musste die Mehrheit der Regionen sinkende Bevölkerungszahlen hinnehmen, zeigt der Zukunftsatlas. Wirtschaftlich schwache Regionen erleben große Bevölkerungsverluste, in Starken werden die Arbeitskräfte knapp. „Die Perspektiven einer Region stehen und fallen damit, wie gut sie den demografischen Wandel meistert," sagt Prognos-Geschäftsführer Christian Böllhoff.
Die Großstädte sind dabei die klaren Gewinner - überall in der Republik erleben sie ihr Comeback. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind urbane Zentren die einzigen Regionen, die sich von der negativen Bevölkerungsentwicklung abkoppeln. Städte wie Frankfurt, Dresden und Leipzig haben in den vergangenen fünf Jahren allesamt zwei bis drei Prozent an Einwohnern hinzugewonnen - und das, obwohl die Bevölkerung in Deutschland insgesamt um 0,6 Prozent schrumpfte. „Die Stadtflucht ist Vergangenheit", sagt Prognos-Regionalexperte Peter Kaiser. „Es gibt einen klaren Trend der Re-Urbanisierung." Die wirtschaftliche Landkarte werde nicht mehr in erster Linie durch den Ost-West-Gegensatz geprägt, sondern zunehmend durch einen Stadt-Land-Gegensatz.
Allerdings gibt es auch Ausnahmen: Auch einige ländliche Räume gehören zu den Aufsteigern im neuen Zukunftsatlas. Einige bereits in der Vergangenheit starke Regionen wie das Emsland und der Landkreis Biberach haben ihre Position ausgebaut. Andere Kreise, denen Prognos früher geringe Zukunftschancen attestierte, haben sich deutlich verbessert - zum Beispiel der Spree-Neiße-Kreis in Brandenburg und der Ilm-Kreis in Thüringen.
Generell erweisen sich Hochqualifizierte sowie Forschung und Entwicklung als immer entscheidender für die Zukunftsfähigkeit einer Region. „Nur mit einer Fokussierung auf forschungs- und technologieintensive Industrien sowie wissensintensive Dienstleistungen können sich die Regionen entscheidende Wettbewerbsvorteile im internationalen Standortwettbewerb erarbeiten", sagt Prognos-Experte Kaiser.
Zum dritten Mal nach 2004 und 2007 hat die Schweizer Denkfabrik die wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit aller 412 kreisfreien Städte und Landkreise Deutschlands untersucht. Grundlage der Studie sind 29 Indikatoren zur Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft, zur Konjunktur- und Arbeitsmarktlage, zur demografischen Situation und zur sozialen Lage.
Das Handelsblatt porträtiert in einer Serie vom 16. bis zum 19. November täglich zwei ausgewählte Regionen. Im Einzelnen werden folgende Städte und Regionen vorgestellt: Erlangen und die Eifel (16. November), Frankfurt am Main und der Landkreis Dahme-Spreewald (Mittwoch, 17. November), die Ems-Region und Braunschweig (Donnerstag, 18. November), Ruhrgebiet und Stuttgart / Böblingen (Freitag 19. November).
Hinweis an die Redaktionen:
Alle Ergebnisse zum Zukunftsatlas 2010 mit einer interaktiven
Deutschlandkarte online unter www.handelsblatt.com/zukunftsatlas oder
hier
zur Verfügung.
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http://www.handelsblatt.com/media/zukunftsatlas/
Berlin liegt 2010 im Gesamtranking auf Platz 270 von 412. (2007: 245, 2004: 262).
Bei der Dynamik steht Berlin besser da: Platz 42. Bei der „Stärke" - das ist die momentane Wirtschaftskraft - nur Platz 330. In der Demographie kommt die Stadt, die viele junge Menschen anzieht, auf Rang 57. Vollends desaströs ist Berlins Abschneiden in der Kategorie „Soziale Lage und Wohlstand": Rang 411, das ist der vorletzte Platz in ganz Deutschland. Überall ist die soziale Lage besser als hier. Das ist schon eine krasse Bewertung. Der Arbeitsmarkt hat sich gut entwickelt: Platz 83. Bei „Wettbewerb und Innovation" reicht es zu Platz 58, das ist ganz gut. (2007: Platz 71)
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Der Aufsteiger hinterm Flughafenzaun
Studie: Kreis Dahme-Spreewald machte bundesweit die größten Fortschritte seit 2004
Von Thorsten Metzner mehr
Der Tagesspiegel, 16.11.2010
http://www.tagesspiegel.de/berlin/der-aufsteiger-hinterm-flughafenzaun/2620744.html