20 Jahre Deutsche Einheit

08.09.2009

Die ostdeutsche Transformation im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren

Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle stellt 20 Jahre nach der „friedlichen Revolution" am Montag, 7. September 2009, in Berlin im Rahmen einer Pressekonferenz das Datenkompendium „Ostdeutschlands Transformation seit 1990 im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren" vor. Damit legt das Wirtschaftsforschungsinstitut erneut eine Dokumentation der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung im vereinten Deutschland vor.

Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), das die wirtschaftliche Entwicklung der Neuen Länder seit 1990 wissenschaftlich begleitet, zeigt mit diesem umfangreichen Datenkompendium den Entwicklungsstatus Ostdeutschlands in all seinen wirtschaftlichen und sozialen Facetten auf. Zahlen, Schaubilder und Tabellen, hinterlegt durch Statistiken, und entsprechende Erklärungen zeigen die Vielschichtigkeit des ostdeutschen Wandels auf.

Ziel des Bandes ist es - neben einer statistischen Referenz - auch, die unterschiedliche Entwicklungsdynamik zu zeigen: zum einen im Sinne der sektoralen Entwicklung, zum anderen mit Blick auf den unterschiedlichen Verlauf der Aufholprozesse in den einzelnen Regionen.

Das Kompendium widmet sich in acht Kapiteln der wesentlichen Dokumentation des Vereinigungsprozesses. Kapitel 1 beleuchtet die gesamtwirtschaftliche Produktion, Einkommen, Nachfrage und Konvergenz: Die ostdeutsche Wirtschaft geriet von 1990 bis 1992 in eine Transformationskrise, schwenkte jedoch danach auf einen Wachstumspfad ein und erzielte in einer kurzen Phase einen deutlichen Wachstumsvorsprung gegenüber Westdeutschland. Doch Mitte der 90er Jahre erlahmten die Wachstumskräfte, die für eine nachhaltige und aufholende Expansion erforderlich gewesen wären. Erläutert werden Ursachen, die den schnellen Abbau des Rückstandes gegenüber den Alten Ländern verhindert haben und für die auch heute noch nicht geschlossene Produktionslücke verantwortlich zeichnen.

Das Kapitel „Bevölkerung" nimmt die Veränderung der Bevölkerungsstruktur im Zuge der Transformation ins Visier: Abwanderung und Geburtenrückgang haben in Ostdeutschland innerhalb der letzten 20 Jahre zu drastischen Schrumpfungs- und Alterungserscheinungen geführt und werden aufgrund des langen Gedächtnisses demographischer Prozesse zu einem bleibenden Effekt des Geburten- und Abwanderungseffektes führen. Da das Humanvermögen einer Region ein entscheidender Faktor im Standortwettbewerb ist, rücken der Einfluss der demographischen Entwicklung auf die Bildung von Humankapital und die Frage, wie der Schrumpfung des Humanvermögens einer Region begegnet werden kann, in den Fokus.

Kapitel 3, Regionale Wirtschaftskraft und interregionale Ausgleichsmechanismen, widmet sich den räumlich gesehen sehr heterogenen Entwicklungsmustern innerhalb Ostdeutschlands, die hinter der nach wie vor bestehenden Lücke hinsichtlich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Produktivität stehen. Während verschiedene ostdeutsche Großstädte sowie bspw. Stadtumlandkreise inzwischen ein Wertschöpfung- und Produktivitätswachstum sowie eine Zunahme der Erwerbstätigenzahl verzeichnen konnten, ging im Gros der ostdeutschen Regionen die Produktivitätszunahme mit einer Beschäftigungsabnahme einher. Analysiert werden die Zusammenhänge zwischen sinkenden Lohnstückkosten, steigender Produktivität und Beschäftigungsabbau, Lohnentwicklungen sowie daraus resultierenden Steuereinnahmen.

Alles in allem führen die Defizite in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und damit hinsichtlich der Steuerkraft dazu, dass Ostdeutschland nach wie vor in starkem Maß auf finanzielle Transfers im Rahmen der interregionalen Ost-West- Ausgleichsmechanismen angewiesen ist.

Kapitel 4 „Beschäftigung und Arbeitslosigkeit": Einerseits ist der ostdeutsche Arbeitsmarkt auch heute noch gekennzeichnet von deutlich höheren Arbeitslosenzahlen, einem größeren Anteil an Langzeitarbeitslosen und damit Hartz-IV-Empfängern, längeren (tariflichen) Arbeitszeiten und eine im Vergleich zu Westdeutschland immer noch niedrigere Entlohnung. Eine weitgehend fehlende Tarifbindung der Arbeitnehmer und -geber im nicht industriellen Bereich führt dazu, dass vielerorts Löhne deutlich unter 7,50 Euro/Stunde gezahlt werden. Andererseits hat sich die Situation für Fachkräfte und Facharbeiter bereits verbessert: Zukünftig ist eher mit einem Mangel an Fachkräften als mit einem Überschuss zu rechnen. Dabei sind die Ursachen v. a. darin zu suchen, dass viele junge, qualifizierte Menschen verstärkt nach Westdeutschland abgewandert sind und der „Nachschub" für den Arbeitsmarkt infolge des extremen Geburtenrückgangs unmittelbar nach der Wende ab 2010 deutlich zurückgehen und dementsprechende Spuren hinterlassen wird.

Innovationen, Forschung und Entwicklung, Humankapital und Bildung sind Gegenstand des 5. Kapitels. Forschung und Entwicklung, Patente und Innovationen sind wesentliche Indikatoren der technologischen Leistungsfähigkeit eines Landes oder einer Region. In den Neuen Bundesländern spielten Innovationen eine wesentliche Rolle für den wirtschaftlichen Aufholprozess. Nach einer Phase des technologischen Erneuerungsprozesses (veralteter Kapitalstock, nicht mehr wettbewerbsfähige Produkte) kommt es nun darauf an, durch die Nutzung der Innovationskraft Dritter, oft der Muttergesellschaften ausländischer Tochtergesellschaften, sowie durch eigene Erfindungen neue marktfähige Produkte einzuführen - eine große Herausforderung für Ostdeutschland. Die Fortentwicklung lokaler Forschungsaktivitäten spielt daher eine entscheidende Rolle im internationalen wirtschaftlichen Wettbewerb. Hierzu zählt insbesondere auch die Qualität des Bildungs- und Ausbildungssystems.

Das 6. Kapitel befasst sich mit kommunalen Entwicklungsstrategien und Wohnen in Ostdeutschland. Städte in Post-Transformationsökonomien, speziell Ostdeutschland, stehen vor besonders großen Herausforderungen: Sie zeichnen sich durch eine nicht marktkonforme Siedlungsentwicklung, jahrzehntelange Unterlassung von Investitionen in die Infrastruktur, Defizite bei der politischen Kontrolle der Kommunen, einen ausgeweiteten kommunalwirtschaftlichen Sektor, Abhängigkeit von staatlichen Transfers und fehlendes Unternehmertum aus. Der vorgenommene Städtevergleich zwischen Ost- und Westdeutschland fokussiert auf die jeweils - der Einwohnerzahl nach - acht größten ost- und westdeutschen Städte. Ein wesentlicher Indikator für die Position der Städte im Standortwettbewerb ist die Höhe der Mietpreise. Im Ergebnis kommt es zu Wanderungstendenzen und durch Abwanderung zum Problem des Wohnungsleerstands, wobei nicht zuletzt die jeweilige fiskalische Situation der Städte beim Versuch, mit ihren Entwicklungsstrategien zu einer verbesserten Position im Standortwettbewerb zu gelangen, eine Rolle spielt.

Kapitel 7 thematisiert Haushalte und Familien/Lebenslagen, Lebensformen und -gemeinschaften. Der Haushalt als Mikrokosmos der Gesellschaft eignet sich hervorragend als Grundlage für die Analyse der sozialen und ökonomischen Lage der Bevölkerung. Die ostdeutschen Privathaushalte mussten eine große Anpassungsleistung in und nach der Systemtransformation vollbringen. In der DDR waren sie mit Blick auf die Lebensbedingungen weitgehend nivelliert. Doch nach der Vereinigung vollzog sich eine Angleichung an westdeutsche Verhältnisse über eine stärkere Ausdifferenzierung der Lebensbedingungen in den ostdeutschen Haushalten und damit eine Zunahme sozialer Ungleichheit. Inzwischen lassen sich die sozioökonomischen Unterschiede nicht mehr damit erklären, ob der betreffende Haushalt ein ost- oder westdeutscher ist, sondern ob der Haushaltsvorstand erwerbstätig oder arbeitslos ist oder welchen Bildungsabschluss die Haushaltsmitglieder haben. Einkommensverhältnisse und Lebensstandard in den ostdeutschen Haushalten haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten verbessert. Dennoch bleiben beachtliche Abstände bei Einkommen und Vermögen zu den westdeutschen Privathaushalten bestehen.

In Kapitel 8 wird Ostdeutschland mit den neuen EU-Ländern verglichen. Ostdeutschland stellt mit seinem Beitritt zur BRD einen Sonderfall der Systemtransformation dar. Durch den gleichzeitig erfolgten Beitritt zur EU wurde die ostdeutsche Wirtschaft unvermittelt der Konkurrenz des Weltmarkts ausgesetzt. Negative Schockeffekte mussten durch massive Transferzahlungen gemildert werden. Die Mittelzuflüsse nach Ostdeutschland setzten auch ein anderes Wachstumsmuster in Bewegung: Investitionen in die Infrastruktur verbesserten die Attraktivität der Regionen für Direktinvestitionen aus den Alten Bundesländern und dem Ausland, die ein Vielfaches dessen darstellten, was die anderen Transformationsländer zunächst erhielten.

Diese kehrten vor allem durch eine Abwertung ihrer Währung und eine graduelle außenwirtschaftliche Öffnung auf einen Wachstumspfad zurück. Erst später kamen sie in den Genuss jener Vorteile, die eine EU-Mitgliedschaft bietet: unbeschränkter Zugang zu den Gütermärkten und zu Mitteln aus dem Struktur- und Regionalfonds.

Verschiedene Indikatoren beschreiben in Kapitel 8 Konvergenz- und Divergenzprozesse zwischen Ostdeutschland und den zehn neuen EU-Ländern.

Die Pressekonferenz findet am Montag, 7. September 2009, von 12.30 Uhr bis 14.00 Uhr in der Vertretung des Landes Sachsen-Anhalt beim Bund, Sachsen-Anhalt-Saal, Luisenstraße 18, 10117 Berlin statt.

Veröffentlichung:

BLUM, ULRICH; BUSCHER, HERBERT S.; GABRISCH, HUBERT; GÜNTHER, JUTTA; HEIMPOLD, GERHARD; LANG, CORNELIA; LUDWIG, UDO; ROSENFELD, MARTIN T. W.; SCHNEIDER, LUTZ: Ostdeutschlands Transformation seit 1990 im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren. IWH-Sonderheft 1/2009. Halle (Saale) 2009.

Wissenschaftlicher Ansprechpartner:

Prof. Dr. Dr. h. c. Ulrich Blum, E-Mail: Praesident@iwh-halle.de
Dr. Herbert S. Buscher, E-Mail: Herbert.Buscher@iwh-halle.de

Pressekontakt:

Stefanie Müller, Tel.: +49 (0) 345/7753-720, E-Mail: presse@iwh-halle.de

Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) widmet sich der Erforschung der Entwicklungen „Von der Transformation zur europäischen Integration". Dieses Forschungsprofil ist auf zwei Bereiche konzentriert: Programmbereich I befasst sich mit Wachstum und wirtschaftlicher Integration, Programmbereich II mit der Analyse von Transformationsprozessen. Unter dem allgemeinen Forschungsthema genießt die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands besondere Aufmerksamkeit. Das IWH ist in drei wissenschaftlichen Abteilungen organisiert: Makroökonomik, Strukturökonomik und Stadtökonomik. Die Forschung wird in inhaltlich definierten Forschungsschwerpunkten durchgeführt, die auf mittlere Frist eingerichtet sind und abteilungsübergreifend spezifische Kompetenzen bündeln. Diese Forschungsschwerpunkte sind als Ort der Einheit von wissenschaftlicher Forschung und wirtschaftspolitischer Beratung zu verstehen. Das IWH ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft.

Quelle: IWH-Pressemitteilung 54/2009 - Halle (Saale), den 7. September 2009 - auch hier zu lesen



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