Ernährungswirtschaft: Hauptstadt des guten Geschmacks

11.01.2010


Hauptstadt des guten Geschmacks

innovativ, exportstark, krisenfest
Backwarenindustrie führt
Für den gehobenen Genießer
Expansion in Spandau
Marktführer in der Region

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Ganz gleich, ob es sich um Schokolade, Essig oder Biere handelt, die Lebensmittelbranche Berlins mit ihren 11 000 Beschäftigten ist innovativ, exportstark und krisenfest. Und sie hat eine lange Tradition. Die reicht weit zurück - bis in die Zeit der königlichen Hoflieferanten.

Bahlsen Keksproduktion bei Bahlsen in Berlin-Tempelhof. Bis zu 20 000 Packungen laufen stündlich vom Band | Foto: PA/DPA 

Sawade, Hildebrand, Fassbender, Carl Kühne - mit diesen Namen konnte schon Prinz Wilhelm von Preußen etwas anfangen. Alle vier waren kaiserliche Hoflieferanten in Berlin. Sawade, Fassbender und die Gebrüder Hildebrand verwöhnten die Monarchie mit erlesenen Schokoladenspezialitäten. Kühne lieferte Saures. Seine Fabrik in der Neuen Grünstraße versorgte die königliche Küche exklusiv mit Essig.

Die vier ehemaligen Hof ieferanten sind immer noch am Markt und längst über die Stadtgrenzen von Berlin hinaus bekannt. Fassbender wurde von der Confiserie Rausch übernommen. Die Firma Kühne, 1722 gegründet und damit einer der ältesten Nahrungsmittelhersteller der Welt, ging nach Hamburg, produziert an sechs deutschen und drei ausländischen Standorten und hat nach wie vor ein Werk in Berlin. Dort werden Essig und Sauerkonserven hergestellt. Andere Hoflieferanten aus dem alten Berlin haben es nicht geschafft. Sie mussten ihre Firmen - vornehmlich in der Kriegs- und Nachkriegszeit - schließen. Die nächste Zäsur erfolgte nach dem Mauerfall vor 20 Jahren. Noch einmal durchlief da die Berliner Ernährungswirtschaft einen erheblichen Strukturwandel. Wegen des Wegfalls der Berlin-Förderung im Jahr 1995 bauten Firmen Arbeitsplätze ab oder schlossen ihre Werke. Aktuell sind rund 11 000 Menschen in der Ernährungswirtschaft der Hauptstadt beschäftigt. Sie erbringen einen Jahresumsatz von rund 11 Mrd. Euro. In der Region Berlin-Brandenburg hat die Branche 21 000 Mitarbeiter. Damit ist sie nach wie vor eine tragende Säule in der Berliner Verarbeitenden Industrie und wichtiger Arbeitgeber in der Stadt. Denn der Strukturwandel wurde auch als Chance gesehen. Allein zwischen 2000 und 2008 investierten die Firmen mehr als 100 Mio. Euro jährlich in neue Maschinen und Anlagen.

Heute ist die Ernährungsindustrie modern aufgestellt. Damit hat sie, so unterstreicht die Wirtschaftsvereinigung der Ernährungsindustrie Berlin-Brandenburg (WVEB), ihre Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten ausbauen können. Lag die Exportquote im Jahr 2005 noch bei 13 Prozent, betrug sie 2008 schon 20 Prozent.

Backwarenindustrie führt

Dieses deutliche Wachstum auf den Auslandsmärkten geht vor allem von den großen Unternehmen aus. Auch die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise konnte diesen Trend nicht stoppen. Im Jahr 2009 blieb die Ernährungsindustrie recht stabil. Die Exportquote liegt aktuell bei 17 Prozent.

Auch die Zahl der Mitarbeiter veränderte sich kaum. Mit 2288 Beschäftigten ist die Backwarenindustrie der größte Bereich, gefolgt von der Süßwarenindustrie mit 1936 Mitarbeitern. Die Getränkeindustrie hat 1234 Mitarbeiter, in der Tabakverarbeitung sind 1706 Menschen beschäftigt. Danach folgen die Fleischverarbeitung mit 800 sowie die Verarbeitung von Kaffee und Tee mit knapp 600 Mitarbeitern.

In Berlin werden national und international bekannte Marken wie Coca-Cola, Schultheiss, Kühne, Storck, Stollwerck oder Bahlsen hergestellt. Aber auch regionale Spezialitäten „Made in Berlin" setzen sich am Markt durch. Die Schokoladenbranche konnte am besten an die Stärken der Gründerzeit anknüpfen. Nach wie vor hat die Confiseriekunst, die von Firmen wie Fassbender, Rausch, Sawade und Hildebrand begründet wurde, ihren festen Platz in der Berliner Wirtschaft.

Die Firma Fassbender & Rausch hat sich zur größten und erfolgreichsten Schokoladenmanufaktur der Welt entwickelt. Sie wird in der vierten Generation von Jürgen Rausch geführt. „Als modernes Unternehmen verbinden wir höchste Qualität mit einem Massengeschäft", erklärt er seine Strategie. Rauschs Motto: „Gute Schokolade macht glücklich." Der Chef führte Fassbender & Rausch raus aus der exklusiven Nische, in der die Firma jahrzehntelang war, ohne seinen hohen Anspruch aufzugeben.

 Für den gehobenen Genießer

Genießer in aller Welt wissen das inzwischen zu schätzen. Fassbender & Rausch betreibt am Gendarmenmarkt einen repräsentativen Flagship-Store. Ansonsten sind die Produkte im Einzelhandel erhältlich. Im September 2009 wurde zusätzlich die „Gläserne Manufaktur" in Tempelhof eröffnet. In die hat das Unternehmen 1,5 Mio. Euro investiert. Fassbender & Rausch ist seiner Heimatstadt treu geblieben, auch wenn die Firma einen Großteil der Produktion im niedersächsischen Peine abwickelt und dort auch die meisten Mitarbeiter beschäftigt.

Sawade setzt dagegen nach wie vor auf das gehobene Genießersegment und behauptet sich darin. Das 1880 Unter den Linden gegründete Unternehmen hat mehr als 200 edle Pralinés und andere Schokoladenartikel im Programm und beschäftigt rund 80 Mitarbeiter. Täglich stellen sie 1000 bis 2000 Kilogramm ihrer Köstlichkeiten her, die ausschließlich an den Süßwarenfach- und fachorientierten Einzelhandel wie Konditoreien, Delikatessen- und Feinkostgeschäfte verkauft werden. Die Kakao- und Schokoladenfabrik Hildebrand hatte in den 1930er Jahren die sogenannte Fliegerschokolade Scho-Ka-Kola erfunden. Den Mix aus Kakao und Koffein gibt es immer noch. Die Energie-Schokolade wird in Berlin von der Nachfolgefirma Scho-Ka-Kola GmbH produziert.

Der gute fachliche Ruf der Berliner Chocolateure könnte ein Grund dafür sein, dass sich nach dem Bau der Mauer im Jahr 1961 etliche Süßwarenunternehmen im damaligen West-Berlin ansiedelten. Die attraktive Berlin-Förderung war ganz sicher ein weiteres Motiv. International aufgestellte Firmen wie Bahlsen, Stollwerck und Storck betreiben heute noch Produktionswerke in der Stadt. Bahlsen hat hier sogar die größte Keksanlage des Konzerns aufgebaut. Im Werk Berlin, das seit 1967 besteht, produzieren rund 340 Mitarbeiter u. a. die Saisonprodukte Contessa, Grandessa, Jupiter und Lebkuchen Männer sowie aus dem kuranten Sortiment Leibniz Choco, Leibniz Choco Sticks und Pick Up!

Die gut 100 Jahre alte Süßwarenfirma August Storck KG, zu deren Produkten Werther‘s Original, Toffi fee, Nimm 2, Super Dickmanns und Merci-Schokolade gehören, hat ihren Hauptsitz 1989 nach Berlin verlegt. Insgesamt beschäftigt die Storck-Gruppe mehr als 4500 Mitarbeiter. Fast jeder Vierte ist in der Hauptstadt tätig. In den 1980er Jahren kam die Wilhelm Reuss GmbH & Co nach Berlin und ist bis heute dem Standort treu. Seit 1987 ist Reuss ein Unternehmen der internationalen Krüger-Gruppe und besitzt mit der Produktion von Nuss-Nugat-Cremes, Kakao und kakaohaltigen Getränkepulvern, milchlöslichen Fruchtgetränkepulvern sowie Kaff eeweißer in Berlin-Neukölln eine wichtige strategische Funktion für Kerngeschäftsfelder und Exportinteressen der Gruppe. Reuss beschäftigt in Berlin rund 280 und in der Betriebsstätte im niedersächsischen Winsen weitere 90 Mitarbeiter.

Der weltweit größte Produzent natürlicher Aromen ist ebenfalls in Berlin präsent. 17 000 Tonnen Früchte verarbeitet die Rudolf Wild GmbH & Co. KG in ihrem Spandauer Werk jährlich zu Extrakten, Aromen, Pürees und Lebensmittelfarben. Die Firma, die 250 Mitarbeiter beschäftigt, arbeitet für alle großen Lebensmittelhersteller, Süßwaren- und Getränkeproduzenten. „Das Geschäft ist absolute Vertrauenssache. Die Hersteller lassen exklusiv bei uns Aromen entwickeln, die wesentlich beeinflussen, wie erfolgreich ihre Produkte am Markt sind. Denn eines ist klar, Geschmack und Farbe entscheiden darüber, ob der Verbraucher am Ende etwas kauft", sagt Wild-Geschäftsführer Thomas Eller. Manche Rezepte seien uralt und geheim. Wie die Ingredienzien der Berliner Fassbrause, die Wild bis heute produziert.

 Expansion in Spandau

Der zu Wild in Heidelberg gehörende Lebensmittelproduzent hat im September 2009 eine neue Anlage zur Herstellung natürlicher Tee- und Kräuterextrakte in Betrieb genommen. Sie bildet das Kernstück im Gebäude 4, das im Frühjahr 2006 auf dem Spandauer Betriebsgelände eröffnet wurde. Auf einer Grundfläche von knapp 5000 Quadratmetern wurden dort in einem ersten Schritt der Wareneingang, die Werkstatt, Büros und Lagerflächen eingerichtet. Im Jahr 2008 zog der Produktionsbereich Sprühtrocknung in das Gebäude. Auch nach der Installation der neuen Produktionsanlage verfügt Wild in diesem Bereich noch über knapp 2000 Quadratmeter Ausbaureserve. Das lässt auf weitere Pläne für Berlin hoffen.

Eine Berliner Erfolgsgeschichte ist auch die Freiberger Lebensmittel GmbH, 1976 von Ernst Freiberger gegründet und seit 1998 eine Tochter der Südzucker AG. Allein 720 000 Pizzen verlassen täglich das Reinickendorfer Stammwerk des europaweit aufgestellten Kühl- und Tiefkühlkost-Herstellers, dazu weitere Convenience-Produkte wie Pasta und Flammkuchen.

Während die Süßwaren- und Lebensmittelbranche in der Stadt noch relativ breit aufgestellt ist, durchliefen Backwaren- und Getränkeindustrie nach der Wiedervereinigung einen drastischen Konzentrationsprozess. Überregionale Bäckereiketten drängten in die Stadt. Von den großen Berliner Fachbetrieben blieben lediglich Hilbig, Steinecke und einige weitere Privatbetriebe übrig, die mehrere Filialen in der Stadt betreiben, wie die Torsten Schnell GmbH. Unübersehbar in der Hauptstadt ist die Kamps GmbH. Der Düsseldorfer Unternehmer Kamps übernahm in den 1990er-Jahren die Ostrowski-Bäckereien und Thoben- Kuchen. Heute hat die Kamps GmbH, die inzwischen zur Lieken-Gruppe gehört, 104 zumeist von Franchisenehmern betriebene Bäckerei-Filialen in der Stadt. Produziert werden die Backwaren in der Pankower Handwerksbäckerei.

Mit seinem Werk in Marzahn hat auch Harry-Brot einen festen Platz in Berlin. Aber es entwickeln sich auch neue Konzepte in der Berliner Backszene. Eine zukunftsträchtige Nische besetzt zum Beispiel die Märkische Landbrot Bäckerei, ein mittelständisches ökologisches Unternehmen mit Sitz im Gewerbegebiet Berlin-Neukölln. Seit 1981 werden dort ausschließlich ökologische Rohstoff e und Zutaten verbacken.

Konzentration durch Wettbewerb kennzeichnet die Berliner Brauereiindustrie. Über 100 Brauereien gab es Anfang des 20. Jahrhunderts im heutigen Stadtgebiet - von Bärenquell bis Engelhardt. Jetzt existiert mit der Berliner- Kindl-Schultheiss-Brauerei nur noch eine Großbrauerei, in der die einstigen Wettbewerber unter dem Dach der Radeberger- Gruppe vereint sind. Sie produziert die traditionellen Berliner Biermarken Berliner Pilsner, Berliner Kindl, Schultheiss und Berliner Kindl Weiße. 429 Mitarbeiter und 28 Auszubildende sind in Berlin beschäftigt.

Marktführer in der Region

Die Berliner-Kindl-Schultheiss-Brauerei ist mit einem Ausstoßvolumen von 1,5 Mio. Hektoliter und einem Marktanteil von über 50 Prozent eindeutiger Marktführer in der Region Berlin-Brandenburg. In den vergangenen Jahren hat sie im deutlich zweistelligen Millionen- Euro-Bereich investiert, davon im vergangenen Sommer allein 2,5 Mio. Euro in eine neue Fassabfüllung. Zusätzlich zum Handel beliefert das Unternehmen rund 9000 Gastronomiepartner in der Hauptstadtregion.

Neben dem großen Brauerei-Platzhirsch behauptet sich in Friedrichshagen tapfer die letzte Berliner Privatbrauerei. Mit Spezialitäten wie Bio-Bier, Schwarzbier oder Berliner Weiße mit Schuss versucht die Berliner Bürgerbräu einen Teil des Marktes zu besetzen. Alkoholfreie Getränke werden in der Hauptstadt seit dem Wegzug von Spreequell fast ausschließlich von Coca Cola produziert. Coca-Cola Deutschland hat seine Unternehmenszentrale in Berlin und produziert alkoholfreie Getränke in Hohenschönhausen. Insgesamt sind in Berlin rund 1200 Mitarbeiter beschäftigt.

„Die Berliner Ernährungsindustrie hat in den letzten Jahren einen ganz normalen Konsolidierungsprozess durchgemacht, der noch nicht beendet ist", konstatiert Th omas Eller, Vorsitzender der Wirtschaftsvereinigung Ernährungsindustrie Berlin-Brandenburg (WVEB). Jetzt komme es darauf an, die Stärken der Stadt zu nutzen, damit die Branche im harten Wettbewerb auf dem Lebensmittelmarkt bestehen kann. Das seien vor allem das Know-how der Fachkräfte und die Innovationskraft der wissenschaftlichen Einrichtungen.

Katja Fischer

 

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Blick in die regionale Wirtschaftspresse - Januar 2009 (1): Berliner Wirtschaft der IHK - 06.01.2010

http://www.innomonitor.de/index.php?id=132&be=955

 


Green Economy: Fortschritt aus Berlin - Titelthema der "Berliner Wirtschaft" im Dezember 2009 - 07.12.2009

http://www.innomonitor.de/index.php?id=132&be=857

 


 

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